Transeuropalauf von zwei Seiten betrachtet (01.06.2003)

Beim Run Across Amerika 2002 hatte ich Feuer gefangen und täglich die Berichte im Internet verfolgt. Als ich vom Transeuropalauf 2003 hörte, war mir klar: hier will ich dabei sein. Nicht als Läufer auf der gesamten Strecke. Das Potential ist mir nicht gegeben. Aber in Deutschland partizipieren? Als Läufer und Betreuer knapp 2 Wochen mitmachen? Meine Generalprobe sollte die Marathonserie des 100 MC an den Hamburger Teichwiesen im Dezember 2002 sein. Nachdem ich dort 5 Marathonläufe in 7 Tagen unter widrigsten Wetterbedingungen geschafft hatte, habe ich mich gleich Anfang Januar 2003 bei Ingo Schulze angemeldet, um 4 Etappen in Deutschland mitzulaufen und bei 7 Etappen als Betreuer dabei zu sein. Sicher sind die von mir geschilderten Eindrücke und Erfahrungen subjektiv. Auch kann der relativ kurze Ausschnitt des Laufes auf deutschem Boden nicht für das ganze Unternehmen sprechen. Dennoch scheint mir die besondere Rolle als Läufer und Betreuer interessant genug zu sein, um darüber zu berichten. Ich habe interessante menschliche Begegnungen gemacht beim TEL. Einige davon werde ich erwähnen. Ich werde auch berichten von einzelnen Betreuern, von Begegnungen an der Strecke, von Landschaften. Vom Wetter, von Quartieren, von meinen Gedanken während des Laufens.

1. Tag – Abfahrt und Ankunft in Waimes / Belgien Am Samstag, 16.5.03 fahre ich gegen Mittag in Bremen los. An der Autobahnraststätte Roxel bei Münster hole ich Rainer Wachsmann ab. Wir kennen uns vom 6 – Stunden – Lauf in Rotenburg / Fulda, und er will 2 Etappen mitlaufen. Die Zeit mit Rainer ist für mich sehr bereichernd geworden. Am späten Nachmittag erreichen wir Waimes in Belgien. Die hohe Venn, ein einzigartiges Hochmoor, ist in „greifbarer“ Nähe. Nach einigem Suchen finden wir auf einer Anhöhe den Sportplatz mit kleiner Halle, in der Läufer und Betreuer untergebracht sind. Die Atmosphäre ist für mich ergreifend. Herzliche Begrüssung mit Sigrid Eichner, meiner Vereinskameradin vom 100 MC. Still liegen die Sportler auf ihren Isomatten und erholen sich, bevor es zum Abendessen in ein nahe gelegenes Restaurant geht. Hier gibt es ein klasse Essen, die Getränke sind heute frei, gesponsert von der Firma Bayer. Abends liegen wir in der Halle dicht an dicht wie die Heringe. Der Transeuropalauf beginnt mich aufzusaugen.

2. Tag – Waimes – Vettweiß / Lauftag Ab 4 Uhr regt sich Leben in der Halle. 4.15 Uhr piepsen die ersten Handys zum Wecken. 4.45 Uhr wird das Licht angemacht. Frühstück. Brote werden geschmiert. Es gibt Kaffee. Jeden Morgen wird in 2 Gruppen gestartet. 6 Uhr die erste Gruppe, die Langsameren. 7 Uhr die Schnelleren in der zweiten Gruppe. So bleibt im Laufe des Tages das Feld dichter beieinander. Die Helfer müssen nicht zu lange an den Verpflegungsständen warten. Ich starte in der ersten Gruppe. Im Dauerregen geht es von Waimes Richtung deutsche Grenze, die relativ unspektakulär nach ca. 17 Kilometer erreicht wird. Weiter Richtung Monschau, sehr bergig mit wunderbaren Ausblicken. An der Rurtalsperre vorbei, Fotos werden gemacht. Heimische Lauftreffs organisieren heute die Verpflegung. Hier in Deutschland ist die Anteilnahme am Lauf grösser, als in den vergangenen Wochen. Menschen an der Strecke zeigen sich informiert und interessiert. Presse, Funk und Fernsehen werden in den nächsten Tagen unsere Begleiter sein. Ich schliesse erste Kontakte zu den Läufern. Auch wenn ich nur Etappenläufer bin, habe ich das Gefühl, schnell integriert zu werden. Nach 62 Kilometern erreiche ich in 8 Stunden und 35 Minuten gut gelaunt das Ziel in Vettweiß. Als langsamer Läufer ist es meine Maxime, die Strecke zu bewältigen und noch ein Lächeln und ein freundliches Wort übrig zu haben. Die beiden Führenden Robert Wimmer und Martin Wagen werden innerhalb Deutschlands gemeinsam laufen. Ihr Wettkampf wird erst wieder in Polen eröffnet werden. Während für die Athleten Ausruhen und Essen in einer nahegelegenen Gaststätte angesagt ist, habe ich noch ein Problem zu bewältigen, das mich in den nächsten Tagen begleiten wird. Mein Auto muss vom Start der letzten Etappe abgeholt werden. Ich hatte damit gerechnet, dass die Organisation den Wagen mitbringen kann, aber das erweist sich als unmöglich. Alle Mitarbeiter sind über die Maßen ausgelastet, es gibt zu wenig Fahrer. So finde ich zwei nette junge Leute, die den sympathischen Joachim Hauser besuchen. Sie fahren mit mir zurück nach Belgien, und ich kann mein Fahrzeug nachholen.

3. Tag – Vettweiß – Witzhelden / Betreuertag Der Tag beginnt mit Stress. Das Frühstück wird anstatt um 4.45 Uhr erst um 5.15 Uhr geliefert. Zusätzlich ist das Fernsehen (ARD – Morgenmagazin) vor Ort, um den Start der ersten Gruppe zu filmen. Die Nerven liegen blank. Der sonst so ruhige Orgachef Ingo Schulze explodiert, als sich jemand zu früh ein Brötchen wegnimmt. „Ihr könnt euren Kram alleine machen...“! Bei der ständigen Belastung und dem permanenten Schlafmangel genügen Kleinigkeiten, um das Fass zum überlaufen zu bringen. Gepäckfahrer Manfred Born, Webmaster Sebastian Seyrich, Alexa Schättli, Freundin von Martin Wagen, Inge Schulze, Frau von Ingo – man merkt ihnen die Belastung an, unter der sie stehen. Reporter Jürgen Ankenbrand hat einen Schutzschild um sich aufgebaut. Streckenmarkierer Brigitte und Joachim Barthelman leisten gleichmütig und gelassen ihren wichtigen Dienst. Martin Bayer, der von seiner Frau, der bekannten Läuferin Else Bayer unterstütz wird, ist für die Versorgung der Läufer zuständig. Er ist ein ruhender Pol, hat immer noch ein nettes Wort für alle übrig. Jeder kann halt anders mit dem Stress umgehen. Beim einen muss der Frust raus, der nächste kann anders kompensieren. Aber alle leisten einen großartigen Dienst. Ich stehe an meinem ersten Betreuertag auf Abruf zur Verfügung. Wieder ein Tag mit viel Regen. Die Laufstrecke führt durch die Stadt Köln hindurch. Der erfahrene Ultraläufer Helmut Schieke, der mir durch seinen unerschütterlichen Humor auffällt, ist gestürzt und muss in Köln aufgesammelt werden. Trotz vielem Suchen in strömendem Regen finde ich ihn nicht. Jemand hat ihn schon mitgenommen. Dafür lese ich den netten brasilianischen „journey – runner“ Carlos Machado auf. „jorney – runner“ laufen auf Grund von Wettkampfabbruch oder Überschreitung des Zeitlimits nicht mehr in der offiziellen Wertung. Carlos ist Flugkapitän und ein sympathischer und hilfsbereiter Bursche. Bei der Firma Bayer ist bei km 65 ein grosser Rummel. Manche Läufer mögen das mehr, andere weniger. Beim Zieleinlauf in Witzhelden herrscht Volksfeststimmung. Im Foyer der Kirche wird Massage angeboten. Ein grosser Tag für Lokalmatador und Initiator des Laufes, Manfred Leismann, der hier gebührend empfangen wird. Frust bei einigen Läufern, die sich in Köln verlaufen haben. Für mich an diesem Tag die Erkenntnis: das Leben als Betreuer kann genauso hart sein wie das Leben des Läufers auf der Strecke.

4. Tag – Witzhelden – Plettenberg / Betreuertag Mein Betreuertag beginnt mit der Aufgabe, Rainer Wachsmann nach Solingen zum Bahnhof zu bringen. Mein Auto ist vollgeladen mit Lebensmitteln für meinen ersten Verpflegungsstand. Nachdem ich mich durch den Solinger Berufsverkehr gequält habe, erreiche ich kaum rechtzeitig die Stelle, wo der Stand aufgebaut werden muss. Biggi, Lebensgefährtin von Werner Selch, geht mir freundlicherweise zur Hand, und ich sammle meine ersten Erfahrungen, was man am Stand alles falsch und richtig machen kann. Ingrid Rücknagel – Böhnke, Betreuerin und Frau von Günter Böhnke – bekannt durch „Günthers SMS“ – gibt mir manch wertvolle Tipps. Was essen Läufer gerne an der Strecke? Nicht gerade das, was im Lehrbuch als optimale Verpflegung angepriesen wird. Unter den Getränken ist Cola der Hit, aber auch Eistee, Wasser, Bier (in Maßen) – und für den Berufsabenteurer Stefan Schlett auch schon mal ein Glas Rotwein. Bei den Speisen sind Müsli – Riegel gerade out. Alles, was süss oder herzhaft ist, ist im Kommen: Brot mit Quark und Honig, Schokolade, Vanillepudding oder auch Gewürzgurken, Dosenfisch und Eierravioli. Ich habe den Eindruck, dass das Essen nicht nur für den Körper, sondern auch für die Psyche der Läufer sehr wichtig ist. Die Athleten hangeln sich mitunter von einem der in ca. 10 km Abstand aufgestellten Verpflegungsstände zum nächsten. Hier muss es etwas Leckeres geben. Einen Wunsch von den Augen ablesen, ein freundliches, aufbauendes Wort oder nur ein Schulterklopfen gibt Kraft für die nächsten Kilometer. Hier werden auch die verschiedenen Charaktere und Mentalitäten offenbar. Deutsche oder Italiener meckern schon mal – Japaner sind meist gleichmütig und bedanken sich mit einer Verbeugung – auch wenn man ihnen gerade gesagt hat, dass die Strecke heute mal wieder 4 km länger ist. Nachdem auch der letzte Läufer an meinem ersten Stand versorgt ist, heißt es, schnell alles einpacken und den nächsten Versorgungspunkt an der schönen Östertalsperre anzusteuern, um dort noch die schnellen Läufer zu erwischen. 2 Verpflegungsstände zu machen, bedeutet Stress, und wenn der 2. Stand gleichzeitig der letzte (unbeliebteste) ist, heisst es, dort bis zu 5 Stunden auf den letzten Läufer zu warten. Dabei aber immer von Herzen freundlich bleiben – denn es geht ja nicht um den Stress des Betreuers, sondern um die Versorgung der Läufer. So bekomme ich heute auf der Strecke nach Plettenberg nicht viel von der Schönheit des heimatlichen Sauerlandes mit, sondern muss mich beeilen, noch selbst was zum Abendessen zu bekommen, die restliche Verpflegung auszuladen nebst Müll und was sonst noch so im Wagen ist. Dann alles vorbereiten für den morgigen, eigenen Lauftag. Umso mehr freue ich mich, dass ich heute Besuch bekomme von meinem Freund Martin Sauer. Hier in Deutschland werden die Läufer häufiger besucht, was vielen Kraft gibt, weiterzumachen. Mit Ansprachen des Bürgermeisters und Ingo Schulzes zur Halbzeit des Transeuropalaufes endet der Tag.

5. Tag – Plettenberg – Brilon / Lauftag Da ich in Hemer im Sauerland aufgewachsen bin, lag es nahe, mich für die schöne Sauerlandetappe zu entscheiden. Ausserdem laufe ich gerne in profiliertem Gelände. Das ist abwechslungsreich für Körper und Psyche. Um 6.00 Uhr geht es los, im Regen die ersten langen Kilometer nur bergauf. Ich finde meinen Rhythmus im hinteren Mittelfeld. Gegen Mittag klart es auf, Wärme und Sonne tun der Seele gut. Ich kann die herrliche Landschaft genießen. Im Monat Mai entfaltet die Natur ihre ganze Pracht, Farben, Geräusche und Gerüche sind berauschend. Die Stecke ist gut zu belaufen, solange sie wenig befahrenen Nebenstrassen folgt. Gelaufen wird in der Nähe des weissen Randstreifens. Den ganzen Tag über fühle ich mich gut, habe keine Probleme, keine besonderen Tiefs, und nach 9 Stunden und 56 Minuten erreiche ich wohlgelaunt das Ziel in Brilon. Aber bevor ich den „Feierabend“ genießen kann, muss ich noch mein Auto vom Startort Plettenberg nachholen. Frank Hildebrand, der mit „Steppenhahn“ Stephan Isringhausen als Etappenläufer angereist ist, übernimmt diesen Freundschaftsdienst. Stephan und Frank wollen 3 Etappen mitlaufen. Ihre fröhliche Art empfinde ich als eine Bereicherung für den TEL. Etappenläufer bringen frischen Wind ins Unternehmen. Jetzt noch schnell die Versorgung für den nächsten Tag in den Wagen laden – und schon geht’s auf die Isomatte, denn die Nacht ist kurz.

6. Tag – Brilon – Hofgeismar / Betreuertag Auf der 74 km langen Etappe wird mir der letzte Verpflegungsstand bei km 67 zugewiesen. Von hinten das Feld aufrollend fahre ich jeden Stand an. 2 Polizisten gesellen sich zu uns. Sie haben großes Interesse an dem Lauf und fragen mir Löcher in den Bauch. Der Himmel ist bedeckt, es regnet leicht. Ich komme nach Marsberg. Hier kreuzt der Europäische Fernwanderweg 1, den ich mit meinem Freund Martin Sauer von Flensburg zum Bodensee abschnittsweise in jedem Jahr bewandere. Im August 2003 starten wir in Marsberg zur 6. Etappe ins Siegerland. Weiter geht’s, und gegen Mittag habe ich das Sauerland hinter mir gelassen: „Herzlich willkommen in Hessen!“ heißt es. Mein Verpflegungsstand wird aufgebaut, und schon kommen die ersten Läufer. Jürgen Hitzler passiert die Station. Der Lastkraftfahrer und erfahrene Ultratriathlet musste wegen gesundheitlicher Probleme in Südeuropa aufgeben, läuft jetzt aber 2 Etappen mit – Trainingseinheiten sozusagen für den geplanten Tripel – Ironman. Es folgt der französische Rollstuhlfahrer Bernard Grojean. Seit einem Unfall 1999 querschnittsgelähmt, leistet er bei diesem Lauf Erstaunliches. Die Bergetappen sind für ihn besonders schwer. Abends sieht er oft so kaputt aus, dass ich meine: der schafft es nicht mehr. Aber am Morgen hat er sich berappelt und startet mit neuer Energie und guter Laune. Ihm stecke ich nur ein Stück Banane in den Mund – mehr will er nicht. Ein weiterer Filmtag: Das WDR – Team dreht an meinem Stand. Karl Graf läuft heran – er wird die heutige Etappe gewinnen. Nach und nach kommen weitere Läufer vorbei: Janne Kankaansyrjä, der immer fröhliche Finne. Luc Dumont, Saint Priest aus Frankkreich, der auch nach 70 km noch einen leichten, federnden Laufstil hat. Jürgen Schlotter, der stille, bedächtige Schwabe, der erst beim TEL richtig realisiert hat, wie sehr ihm lange Strecken liegen. Er ist für mich eine bemerkenswerte Persönlichkeit. In seiner ruhigen Art fragt er auch nach einem schweren Tag besorgt nach, ob ich mein Fahrzeugproblem für meinen nächsten Lauftag gelöst habe. Der Italiener Aldo Maranzina, der auf mein freundliches Angebot, einen Becher von meinem privaten Bier zu bekommen, mir die Flasche aus der Hand reißt und leer trinkt. Joachim Hauser, der immer wieder neue Kraft schöpft, die laufbedingten Probleme überwindet, viel Besuch bekommt und gerade von seinem Vater begleitet wird. Günther Böhnke, der „laufende Poet“ auf der Suche nach dem Sinn, wird mir in seinem Verhalten und seiner Art, mit den Dingen umzugehen, ein Vorbild. Und der Holländer Cor Westhuis, begleitet von seiner Frau Harmien und Sohn Sybrand auf dem Fahrrad von Lissabon nach Moskau. Ich habe die drei schnell ins Herz geschlossen. Sie geben einander viel Kraft. Ihre Familie ist wie eine starke Festung. So neigt sich auch dieser Tag dem Ende zu. Alle Läufer kommen wohlbehalten ins Ziel, und es folgt das Ritual des Aus- und Einladens von Getränken und Lebensmitteln, Schlafsack und Isomatte, Bett herrichten, essen und schlafen.

7. Tag – Hofgeismar – Gieboldehausen / Betreuertag Wir sind in Hessen – man merkt es am Frühstück. Schlachtplatte am Morgen: Die Tische biegen sich von Mett, Würsten und Sülze. Nicht jedermanns Sache – aber für mich eine ernste Versuchung. Frank bietet mir an, seinen neuen Audi A 2 als Versorgungsfahrzeug zu nutzen. Ein sogenannter 3 – Liter Diesel, der an der Ampel automatisch ausgeht und beim Loslassen der Bremse wieder anspringt. Sprit sparen. Am Vormittag will die Müdigkeit mit Macht nach mir greifen. Durch den tagelangen Schlafmangel werde ich nur noch nachmittags oder beim Laufen richtig wach. 2 Verpflegungsstände heute. Trotz der Müdigkeit und der mancherlei Probleme bei diesem Unternehmen überwiegt das Schöne und das Begeisternde bei weitem. Für mich als Pastor und Leiter einer psychiatrischen Einrichtung ist die Beobachtung, wie unterschiedlich Menschen in Extremsituationen reagieren, eine spannende Erfahrung. Zum Beispiel die Wahl des Schlafplatzes. Während alle Athleten sich am Abend ihr Schlaflager an den Hallenrändern einrichten, hat sich eine Läuferin allein in der Mitte der Halle platziert. So ist sie allein, von allen anderen isoliert, und doch im Mittelpunkt. Allein und trotzdem mitten drin. Es ist Martina Hausmann, die erfahrene Ultraspezialistin. Ihre große Stärke liegt im einsamen, tagelangen Rundenrennen, wo sie kaum zu überbieten ist. Beim TEL hat sie viele Probleme. Aus der Wertung ausgeschieden macht sie trotzdem weiter. In ihrer Laufkonstanz ist sie mir ein Vorbild. Die 85 km lange Strecke führt über das Weserbergland. In Reinhardshagen muss mit der Fähre die Weser überquert werden. Am anderen Ufer erkenne ich den Weser – Fern – Radweg. Diesen Radweg habe ich vor einigen Jahren mit meinem Kindern von Bremen nach Hannoversch Münden befahren. An diese Stelle kann ich mich noch gut erinnern. Heute wartet hier Werner Sonntag mit Kamera und Notizblock. Harald Heyde vom Waldhessen Team läuft ein Stück mit. Es werden eifrig Fotos gemacht. Welcher Läufer erwischt die Fähre noch – wer muss auf die nächste warten? Ich steuere meinen Verpflegungsstand an. Die Strasse windet sich von der Weser weg den Berg hoch, es giesst in Strömen. Bei Varmissen geht es wieder bergab, und in Obernjesa baue ich meinen Stand auf. Heute ist wieder ein reges Interesse am Lauf zu verzeichnen. Funk und Fernsehen sind vor Ort, interessierte Menschen kommen, um die Läufer zu begrüssen. Gegen 14.00 Uhr baue ich meinen 2. Verpflegungsstand bei km 77 auf. Links und rechts erstrecken sich gelbe Rapsfelder soweit das Auge reicht. Die Sonne ist wieder durchgekommen und es wird angenehm warm. Neza, die Tochter und Betreuerin des slovenischen Läufers Dusan Mravlje, hält mit Carlos am Stand und kocht Nescafe – eine willkommene Überraschung. Neza ist sehr nett. Sie hat ihren Vater schon beim Transaustralien – Lauf begleitet und ist mit 24 Jahren kaum älter als meine Tochter Tabea. Umgangssprache ist meist Englisch. Teilnehmer aus 12 Nationen müssen miteinander auskommen. Wir können viel voneinander lernen, und das Motto „Transeuropalauf – für Frieden und Verständigung“, beginnt für mich mehr als nur ein Schlagwort zu werden. Ein Reporter vom Mitteldeutschen Rundfunk fragt mich, ob ich mich Gott beim Laufen näher fühle. Eine junge Skaterin sagt: „kompletter Wahnsinn, was ihr hier macht!“ Ein Radfahrer fragt, ob wir Mützen zu verschenken haben. Man erlebt allerhand als Betreuer am Stand. Das Leben des Betreuers ist hart, und ich freue mich, dass morgen wieder Lauftag ist. Am Abend in Gieboldehausen ist Volksfeststimmung. 1000 Jahr Feier. Der Transeuropalauf wird integriert. Mit dem Shuttlebus geht es in die Turnhalle. Es gibt gutes Essen, Geschnetzeltes, Nudeln, Erbsen, Salat. Vereinskollege vom 100 MC, Jürgen Kuhlmey ist angereist, um 2 Etappen mitzulaufen. Frohes Grüssen. Masseur Ernst Albrecht ist eingetroffen und wird in den nächsten Tagen hilfreich zur Seite stehen. Nun noch meinen Wagen holen, denn ich war ja heute mit Franks Audi unterwegs. Total kaputt lege ich mich auf mein Lager. Wer wird morgen meinen Wagen fahren? Diese Sorge sage ich noch im Gebet meinem Gott.

8. Tag – Gieboldehausen – Wernigerode / Lauftag Ingrid Rücknagel – Böhnke bietet sich an, meinen Wagen zu fahren. Die anspruchsvolle Laufstrecke führt heute durch den Harz. 8 mal schon bin ich hier gelaufen, auf den Brocken oder die Harzquerung. Übernachtet wird wie immer in der alten Turnhalle unter den Zindeln. Da fühle ich mich schon zu Hause. Ich laufe bei warmen Wetter mit Frank und Stefan los. Eine idyllische Landschaft, die Berge des Harzes rücken immer näher. Ich löse mich von meinen beiden Laufkameraden, muss meinen eigenen Rhythmus finden. Die wunderschöne Odertalsperre wird passiert. Die 70 km lange Tagesetappe windet sich auf 600 m hoch. Das Wasser wird knapp, der Durst immer stärker, die unbemannte Verpflegungsstation ist geplündert. Glücklicherweise bieten freundliche Radfahrer mir was zu trinken an. Die Beine werden schwer. Braunlage. Wieder bergan. Oben: Wernigerode 16 km, links der Brocken. Jetzt ein bekannter Ton: die Harzgebirgsbahn schnauft vorbei. Ein angenehmes Geräusch, das mich fröhlich stimmt. Rennstrecke. Halsbrecherisch rasen Motorräder ohne Zahl lärmend über die kurvenreichen Strecken. Ohne Rücksicht auf Verluste für Mensch und Tier. Der tägliche Kampf des Läufers mit den motorisierten Zeitgenossen ist heute besonders gnadenlos. Viel wird mir geraubt von der Schönheit der Landschaft durch die Rücksichtslosigkeit der Rennfahrer auf Deutschlands Strassen. Im „wilden Osten“ noch mehr als im Westen. Sigrid Eichner überholt mich, während ich mal in die Büsche muss. Und dann endlich das erlösende Schild: Wernigerode. Noch einmal zieht sich die Strasse kilometerlang hin bis in die Ortsmitte. Zieleinlauf auf dem bekannten, historischen Marktplatz vor dem Rathaus. Hier findet heute ein Volkslauf statt. Nicht nur für die 10 km und Halbmarathonläufer ist das Ziel erreicht, auch ich setze mich erschöpft, aber glücklich hin. Der Ansager erzählt begeistert vom kommenden Vatertag und rühmt die Freuden des damit verbundenen Alkoholgenusses. Da muss ich mich noch einmal aufraffen. Ich mache ihn höflich darauf aufmerksam, dass wir in der kommenden Woche Christi Himmelfahrt feiern. Darauf bittet er mich, eine kleine Rede an das Volk zu richten, was ich gerne tue: Christen glauben, dass Jesus nach Kreuzigung und Auferstehung zu Gott, seinem Vater, zurückgegangen ist. In Königswürde eingesetzt regiert und segnet er die Menschen, die ihm vertrauen. Die vielen Leute auf dem Marktplatz hören meine Worte, vereinzelt bekomme ich Zustimmung. In der Turnhalle angekommen, treffe ich Rene Wallesch vom 100 MC. Er will von morgen an bis nach Moskau mitlaufen. Stephan Isringhausen hat die heutige Etappe nicht bewältigen können. Mit einem Klappstuhl in der Hand ist er zum Ziel getrampt. Am Abend haben wir in kleiner Runde vor der Halle beim Bier zusammengesessen, und bald waren die Belastungen des Tages in froher Gemeinschaft vergessen. Jetzt noch schnell Versorgung für morgen in den Wagen laden: ich habe den „beliebten“ letzten Verpflegungsstand zu betreuen.

9. Tag – Wernigerode – Schönebeck / Betreuertag Heute habe ich zunächst Frank und Stefan nach Gieboldehausen zurück zu ihrem Auto gebracht. Sie fahren in die Heimat ins Ruhrgebiet. Ich habe Zeit genug, denn mein Verpflegungsstand ist bei km 67. Die Laufstrecke ist jetzt flach, das Wetter wieder heiss. Lange an der B 81 entlang, teils auf gut ausgebautem Radweg, was für die Läufer sehr angenehm ist, da sie sich dann nicht so sehr auf den Verkehr konzentrieren müssen. Dann ist wieder kilometerlanges Laufen auf dem weissen Randstreifen angesagt. Die Japaner werden von einer Delegation aus der Heimat begrüsst. Brigitta Biermanski und Don Winkley laufen vorbei. Sie sind beide aus der Wertung und laufen als „journey – runner“. Brigitta hat bisher nur 3 Etappen ausgelassen und läuft scheinbar ohne Mühe. Don aus den USA läuft als älterer Athlet je nach Befinden etappenweise mit. Weiter geht’s über Derenburg, Halberstadt, Kloster Gröningen, Kropenstedt, Tartun Richtung Schönebeck. Ich grüsse die Läufer, an denen ich vorbeikomme. Meist grüssen sie zurück. Zusammengeschusterte Ex – DDR – Strasse. Von uralten Bäumen gesäumte lange Alleen. Moderner Windkraftpark. 2 mal verfahren: jetzt wird es Zeit, meinen Versorgungspunkt zu finden und den Stand aufzubauen – nach einem kleinen, sanften Rüffel von Alexa – sie macht sich verständlicher Weise Sorgen, dass ihr Martin sein Isostar bekommt. Lange muss ich ausharren an meinem Stand. Sigrid fehlt noch. Ich muss nicht auf sie warten, soll Getränke und Verpflegung an der Strecke deponieren. Das mag ich nicht tun. Der langsame Läufer hat die Betreuung und Unterstützung fast noch nötiger, als der schnelle. Das weiss ich aus eigener, schmerzlicher Erfahrung. Nun ist das Ziel in Schönebeck, direkt an der Elbe, erreicht, und es geht mit dem Shuttle – Bus zur Turnhalle. Nachdem alle Aufgaben erfüllt sind, geht es in den Schlafsack. Ich habe mich an das Übernachten nach der Art der Ölsardinen gewöhnt. Es geht das Gerücht um, dass ein Läufer, der zwischendurch einmal im Hotel übernachtete, morgens auf dem Fussboden aufwachte. Man gewöhnt sich an alles...

10. Tag – Schönebeck – Wilhelmsdorf (vor Brandenburg) / Betreuertag Eine gute Nachricht für die Läufer heute – eine „schlechte“ Nachricht für mich: Die Strecke wird um 7 km verkürzt, dafür ist sie morgen um 7 km länger. Morgen laufe ich wieder. Meinen Stand muss ich bei km 75 aufbauen, unterstützt von Etappenläufer Manfred, der heute pausiert. Zum Frühstück gibt’s keinen Kaffee, da er nicht ausdrücklich bestellt wurde. So muss mal wieder improvisiert werden. Heute wird die 3000 km Marke überschritten – durch einen schlichten Kreidestrich auf der Strasse markiert. Über Plötzki, Gommern, Leitzkahn geht es durch viele kleine Orte Richtung Brandenburg. Überwiegend auf gut zu belaufenden Nebenstrassen. Bei km 75 baue ich den Stand auf. Manfred ist unterwegs ausgestiegen, um bei km 3000 Stefan Schlett zu begrüssen. Es ist nicht einfach, einen günstigen Platz für den Stand zu finden. Verkehrsmässig unbedenklich und gut einzusehen muss er sein. Aber auch geschützt vor Sonne und Wind. Auf der linken Seite, damit die Läufer nicht die Strassenseite wechseln müssen. Eben, damit die Flaschen nicht vom Campingtisch rutschen. Bei allem immer noch eine Portion Gelassenheit und Ruhe bewahren, um die diversen Klagen der Läufer wegzustecken. Bevor Bernard, Robert und Martin kommen, kann ich mich noch etwas im Auto ausruhen. Dann Interview mit der Berliner Zeitung. Es geht natürlich um die beiden Führenden, aber auch meine Einschätzungen als Etappenläufer und Betreuer fliessen in den schönen Bericht mit ein. Ein einheimischer Besucher namens Udo – selbst Läufer – hat am Stand seine Hilfe angeboten. Seine Mutter hat Brote mit selbstgemachtem Schmalz gestiftet, dazu Krombacher Bier – eine willkommene Ergänzung und Bereicherung. Auch die Japaner – offen für alles Neue – genießen diese ungewöhnliche Kombination von Läufernahrung. Nachdem auch Mariko Sakamoto den Stand passiert hat, heißt es Einpacken und zum Zielort Wilhelmsdorf fahren. Es gibt ein gutes Abendessen, eine schicke Unterkunft, Carlos bietet sich an, morgen meinen Wagen zu fahren, und so kann ich mich unbesorgt zur Ruhe begeben.

11. Tag – Wilhelmsdorf (vor Brandenburg) – Dahlewitz (bei Berlin) / Lauftag Es verspricht ein heißer Tag auf langer Strecke zu werden. Ich habe ein Kribbeln in den Beinen und freue mich, wieder laufen zu können. Für mich sind 4 Ultras in 8 Tagen eine Premiere, und ich wundere mich, wie gut es geht. Nach der Routine von „Halle räumen“ und „Gepäck einladen“ erfolgt um 6 Uhr pünktlich der Start. Zunächst sind die gestern abgekürzten km nach Brandenburg nachzuholen. Das verlängert die heutige Etappe auf knapp 80 km. Ein schöner Sonnenaufgang, die Sonne immer von vorn, höher steigend, nachmittags im Rücken. Die Laufrichtung ist eben immer gen Osten, an der B 1 entlang, meist auf gut ausgebauten Radwegen. An Feldern vorbei mit Wiesenblumen, die ich so gerne mag. In aller ihrer Pracht regen sie die Sinne an: roter Mohn, blaue, gelbe Blumen. Morgendliche Oberschenkelprobleme verflüchtigen sich während des Laufens. Obstplantagen, verschlafene Dörfer, Verkaufsstände an der Strecke: Spargel, Eier, Gemüse, Honig. Zum grossen Teil renovierte Häuser, manche noch runtergekommen. Derwitz / Landkreis Potsdamm – Mittelmark. Auf freier Strecke. Die Gefühlslage ist ausgezeichnet. Die Gedanken beginnen zu fliessen. 12 Stunden auf der Strecke. Stefan Schlett würde sagen: ein harter Arbeitstag. Was macht meine Psyche, während der Körper im Gleichmass arbeitet? Was kann ich tun, um nicht innerlich in ein Loch zu fallen? In Gedanken systematisiere ich heute die in den Jahren gesammelten Erfahrungen und vertreibe mir so die Zeit: 1. Positiv Denken. Ich habe schon ein Drittel der Zeit rum. Die Schmerzen waren gestern schlimmer als heute. 2. Stückweise, wenn es sich ergibt, mit anderen Teilnehmern gemeinsam laufen. Etwas Unterhaltung lenkt ab und lässt die Zeit vergehen. 3. Sich auf Zwischenziele wie den nächsten Verpflegungsstand freuen. Den „Elefanten nicht auf einmal, sondern Stück für Stück verzehren“. 4. Einen Traum im Hinblick auf das Ziel träumen, z.B. als Belohnung ein großes, kühles Bier. Eine solche „Vision“ hält mich zeitweise gut aufrecht. 5. Die Gedanken auf eine Reise schicken. Mit irgendeinem Gegenstand gedanklich beschäftigt sein, während der Körper läuft. 6. Die Gedanken abschalten, innerlich still und ruhig werden. Eine Art Meditation. 7. Zeitweise hilft es mir, beim Laufen zu beten. Gott meine ungelösten Probleme zu sagen, meine Sorgen abzugeben, ihm zu danken für alles Gute. So habe ich laufend manche Stunde verbracht. 8. Über ein Wort aus der Bibel nachdenken, meditieren. Eine positive Aussage, die mir Kraft gibt, innerlich bewegen. 9. Offen sein für die Geräusche, Gerüche, Farben in der Schöpfung. Ein murmelnder Bach, Vogelgezwitscher, das Streicheln des Windes auf der Haut, die Wärme der Sonne, der Duft der Rapsfelder, die unterschiedlichen Grüntöne der Blätter. 10. Aus freundlichen Gesten von Menschen Kraft schöpfen, aus einem Zuwinken, einem aufmunternden Wort. Noch ist alles gut. Ich laufe schnell und leicht. Es geht über die Havel, herrliche Ausblicke. Die Verpflegungsstände erreiche ich tanzend. Duft von Heckenrosen, Vogelgezwitscher. Peter Rossow, leider aus der Wertung ausgeschieden, macht einen super Betreuungsdienst. Sein Norddeutsches Temperament kommt mir sehr entgegen. Ich bekomme ein Reisbällchen von einem japanischen Läufer geschenkt. Es schmeckt sehr salzig, nach Seetang, sehr gut. Landeshauptstadt Potsdamm. Die starke japanische Läuferin Hiroko Okiyama läuft heute unter großen Schwierigkeiten. Keinerlei Anteilnahme an unserem Lauf in Postdamm. Bei km 50 kommt das Tief. Ich kann nicht mehr laufen, nur noch gehen. Gehen, 30 km bis zum Ziel, male ich mir aus. Warum laufe ich eigentlich, tue mir das an? Ich werde meine „Laufkarriere“ beenden. „Schmerz ist gut, da weiß man, dass man noch lebt“. Diesen Satzt von Stefan Schlett zitiere ich immer wieder. Weiter, weiter, auch Gehen schafft km. Die Hitze ist unerträglich. Nichts zu trinken mehr. Da reichen mir 2 Potsdammer ein kühles Mineralwasser. Also doch Anteilnahme. Das macht etwas Mut. Raus aus der Stadt. Auf die vielbefahrene Bundesstrasse. Volle Konzentration auf den Verkehr. Auch das lenkt ab. Bei km 60 geht es plötzlich besser. Ich fange wieder an zu laufen, werde schneller. Ich kann meine Sinne erneut auf das Schöne lenken, ein friedliches Dorf, eine beeindruckende, alte Kirche. Bei km 70 schließt Mariko auf. Mahlow heißt der Ort, durch den ich jetzt laufe. Mariko sagt: „Oh, you are my pace – maker all the day.” Ich antworte: “Mariko, knowing you behind me helped me to go on this day!” Wir beschließen, zusammen ins Ziel zu laufen. Ein letzter Verpflegungsstand, liebevoll betreut von einem Berliner Lauftreff. Nach 12 Stunden ist endlich das Ziel erreicht. In dem kleinen Ort Dahlewitz hat der örtliche Sportverein einiges auf die Beine gestellt: jeder Läufer wird ins Ziel begleitet, heiße Rhythmen aus den großen Lautsprechern, jugendliche Cheerleaders. Mariko und ich laufen Hand in Hand ins Ziel und haben eine solches Hochgefühl, dass wir erst mal vor allen einen flotten Tanz hinlegen. Das Essen ist klasse, die Stimmung gut, übernachtet wird in einem Festzelt.

12. Tag – Dahlewitz (bei Berlin) – Slubice (Polen) / Betreuertag Der Tag in Dahlewitz beginnt genauso gut, wie er gestern geendet hat. Ob ein Frühstück nur so dahingestellt ist vom Catering – Service mit der Bemerkung: „Kaffee? Den gibt’s nicht, den haben sie nicht bestellt!“ oder ob es, wie heute, mit viel Phantasie und Engagement von den Leuten hier im Dorf hergerichtet wurde – dazwischen liegen Welten. An meinem letzten Tag bin ich verantwortlich für die Stände bei km 45 und 80. Das heißt, es gibt viel zu tun. Es verspricht wieder ein heißer Tag zu werden. Etappenläufer Jörg König unterstützt mich. 9 Etappen ist er in Folge mit Bravour gelaufen, bei der 10. musste er die Segel streichen. Da er auch aus Norddeutschland kommt, wird er heute Nacht auf der Rückfahrt mein Begleiter sein. Hiroko läuft so schief, dass es ein Jammer ist, zuzusehen. Rotberg, Eichenwalde, Wernsdorf, Neuzittau sind einige Orte auf dem Weg. Der erste Verpflegungsstand wird aufgebaut, nach getaner Arbeit abgebaut, und flott geht’s weiter zum Versorgungspunkt bei km 80. Hier fällt Jörg und mir die undankbare Aufgabe zu, den Läufern zu eröffnen, dass entgegen der Annahme noch 14 km zu bewältigen sind. Ein zusätzlicher, unbemannter Stand wird eingerichtet. Trotz Schild „Notverpflegung für Läufer“ muss ich bei einer Kontrolle feststellen, dass alles gestohlen wurde. Was sind das für Menschen? Die Reaktionen bei den Läufern auf die Steckenverlängerung sind wie immer unterschiedlich: von gleichmütiger zur Kenntnisnahme bis zum lauten Weinen und Schreien erleben wir wieder die ganze Skala der Gefühle. Für mich nachvollziehbar und ein Ausdruck der Härte des Rennens, auf die jeder emotional anders reagiert. Nachdem wir unseren Platz geräumt und gesäubert haben, fahren wir noch dem letzten Läufer entgegen, um ihm eine Notration zu überreichen. Gegen 19.00 Uhr überqueren wir problemlos die deutsch – polnische Grenze. Nach ca. 3 km erreichen wir das heutige Etappenziel, ein Sportzentrum, wo wir noch die Möglichkeit eines guten Abendessens nutzen. Ich verabschiede mich, soweit es geht, von allen Mitarbeitern und Läufern. Viele von ihnen habe ich ins Herz geschlossen, und es fällt mir sehr schwer, den Tross zu verlassen. Der Transeuropalauf ist für mich zu Ende, und gegen 21.30 Uhr verlassen Jörg und ich Polen in Richtung Heimat. Bei guter freier Strecke erreiche ich – nachdem ich Jörg bei Verden seiner Partnerin übergeben habe – gegen 3.00 Uhr in der Früh meine Heimatstadt Bremen. Der Transeuropalauf hat mich sehr gefesselt. Von 2 Seiten habe ich das Unternehmen kennen lernen können: als aktiver Läufer und als Betreuer am Stand. Die Erfahrungen mit den Läuferinnen und Läufern, den Verantwortlichen und Kollegen aus dem Betreuerteam, mit der Beherbergung und Versorgung waren zum ganz überwiegenden Teil gut. Ich habe meine Teilnahme keinen Augenblick bereut. Es fällt mir nicht leicht, mich gedanklich von dieser Erfahrung wieder zu lösen, Distanz zu bekommen. Und doch weiß ich: mein Leben ist nicht nur der Lauf. Der Lauf ist ein Höhepunkt, ein sehr schönes Abenteuer. Mein Leben ist meine Familie, meine Aufgabe in der sozialen Einrichtung, in der ich tätig bin. Mein Leben wird auch definiert über meinem Glauben und meine Gemeinde, über Freundschaften, über die Malerei. Leben ist für mich eine Summe von vielen wichtigen Einzelaspekten. Und dennoch bin ich mir sicher, dass die Erfahrungen der letzten 12 Tage mich stark, tief und dauerhaft beeindruckt und bereichert haben.

Bremen, 31.5.2003 Uli Schulte