Gebaut auf über 100 kleinen, sumpfigen Inseln, verbunden durch fast 400 Brücken, die über 177 Kanäle führen, bedeckt Venedig eine Fläche von nur acht Quadratkilometern.

Weltbekannt die Gondoliere, die Rialto-Brücke oder der Dogenpalast. Venedig fasziniert. Keine Autos, nicht einmal Fahrräder gibt es hier. Alles geschieht zu Fuss oder per Boot. In immer neuen Ecken, Sackgassen, geheimnisvollen Hinterhöfen windet sich Venedig um sich selbst. Es gibt nicht den einen Weg, beispielsweise vom Piazzale Roma, der zentralen Busstation, an dem auch die Shuttlebusse vom nahe gelegenen Flughafen Marco Polo ankommen, zum Markusplatz. Nein, da gibt es viele Wege, denn es ist oft egal, ob man den ersten oder zweiten Abzweig in den verwinkleten Gassen nimmt. Auch die vielfach an den Hausecken aufgemalten Wegweiser zeigen des öfteren in beide Richtungen. So entdeckt man immer wieder neues und ich entdecke, auch Venedig hat seinen schiefen Turm: San Giorgio dei Greci.   

Die Startnummernausgabe befindet sich auf der Marathonexpo im San Giuliano Park in Venezia Mestre. Von der zentralen Busstation ist dies nur eine kurze und preiswerte Fahrt über den Damm zum Festland. Auf der kleinen Messe werden neben Laufsportartikeln auch verschiedene Produkte zum probieren verteilt. Peter Lula nimmt die kleine Yakult Probe von dem netten Mädchen gerne an. Nach der Startnummernausgabe kann man seinen Chip sofort auf dem Bildschirm kontrollieren.

Dieser ist im übrigen in einer kleinen Plastikverpackung auf der Rückseite der Startnummer angebracht und wird nach dem Lauf entfernt und zurückgegeben. Im Bereich des Frucht und Gemüsemarktes im Stadtteil Tronchetto sollen die Busse zum Marathonstart abfahren. Das ist nicht weit weg von der zentralen Busstation und von unserem Hotel in der Nähe. Unser Hotel liegt daher äußerst günstig, denn hier, wo auch der Bahnhof gelegen ist, gibt es auch einen großen Supermarkt mit Preisen teilweise günstiger als bei uns zu Hause. Dass das weisse Gebäude links im Hintergrund dieser Frucht und Gemüsemarkt ist, haben wir erst nach langer Suche am Tag vor dem Marathon herausbekommen. Auch bei dem davor gelegenen Terminal für die großen Kreuzfahrtschiffe, war dies seltsamer Weise nicht bekannt.

Die Abfahrt der Busse dort ist für die Zeit von 6:50 Uhr bis 7:10 Uhr vorgesehen, aber um 6:50 Uhr ist noch kein Bus, dafür tausende von Läufern, hier. Die Busse fahren einzeln vor, werden "vollgeladen" und erst dann kommt der nächste Bus. Eine eigenartige Organisation, denn hier hätten durchaus 10 Busse hintereinander bereits auf uns warten können. Es sind hauptsächlich Linienbusse mit entsprechend mehr Steh- als Sitzplätzen. So muss auch ich die rund 30 Kilometeter bis zum Start in Stra stehen.

In Stra fährt der Bus noch um mehrere Blocks, da an der Stelle, an der wir aussteigen, nicht gewendet werden kann. Trotzdem müssen wir dann noch einige hundert Meter laufen, bis wir den Startbereich erreichen. Rund 7000 Teilnehmer versammeln sich hier und zufällig treffe ich Hans Meinel aus Schwäbisch Hall, den ich schon auf vielen Marathonreisen getroffen habe. Dass er schon in der M70 läuft, sieht man ihm nicht an. Brutto sei er eine Zeit von 3:33:33 gelaufen, erzählt er mir nach dem Rennen.

Der Start befindet sich unmittelbar vor dem Landsitz der venezianischen Familie Pisani. Die Villa wurde im 18. Jahrhundert erbaut. Das Prozedere vor dem Start kommt mir etwas überorganisiert vor. Man soll rechtzeitig einchecken in seinen Startblock, erkennbar an der unterschiedlichen Farbe der Startnummer, sonst müsse man von ganz hinten starten, wird auch in deutsch mehrfach über die Lautsprecher verkündet. Dieses einchecken beginnt bereits eine Stunde vor dem Start, so dass viele während dieser Stunde kurz die Böschung herablaufen, um einem gewissen Druck nachzugeben. Bleibt übrigens vielen weiblichen Teilnehmern auch nicht erspart, aber die zu kühler Morgenstunde noch übergestreifte Plastiktüte verdeckt tatsächlich alles.

Dann, pünktlich um 9:20 Uhr geht es los, nachdem uns die Hubschrauber für die Liveübertragung im ialienischen Fernsehen mehrmals umkreist haben. Auf dem ersten Streckenteil begleitet uns für längere Zeit rechter Hand das Flüsschen Brenta. Nach wenigen Kilometern laufen wir durch Fiesso d'Artico bei wolkenlosem Himmel und dementsprechend ansteigenden Temperaturen. Kurz nach km 5 erreichen wir Dolo. In diesen Kleinen Ortschaften bekommen wir lautstarke Anfeuerung durch die Zuschauer am Rande der Strecke.

Aber auch die vielen Musikgruppen sorgen für mächtig Stimmung. Und ich muss sagen, überall haben sie gespielt, ohne Pause, auch für uns Läufer, die wir über 4:30 Stunden unterwegs sind und die Qualität ihrer Darbietungen ist außerordentlich. Auch Trommelkapellen und Fahnenschwinger sorgen für die optischen Reize auf diesem Abschnitt durch Dolo.  
Wir haben jetzt 10 km in den Beinen und ich musste bereits in die Büsche. Ja, es läuft heute nicht so gut bei mir, ich muss mich schon seit Anfang quälen, wie wird das enden? Aber noch macht es trotzdem Spaß, angesichts netter Läuferinnen und der Brenta, die immer wieder rechts der Straße zum Vorschein kommt.

Wir erreichen Mira, eine Gemeinde mit rund 38.000 Einwohnern. Es läuft jetzt besser und die Strecke ist noch sehr abwechslungsreich. Stimmung auf den Abschnitten durch die Dörfer und das tolle Wetter. Viele Läuferinnen tragen Röckchen. Italien, das Land der Mode! Wir haben inzwischen km 15 und die Provinz Oriago erreicht. Eine Zeit lang laufe ich mit den Zug- und Bremsläufern mit Zielzeit 4:30, kann mich sogar später nach vorne absetzen.

Dann wird die Strecke eintöniger. Immerhin, die Brenta liegt noch rechts von uns und der Blick auf den Ausflugsdampfer lenkt etwas ab von den Strapazen durch die steigenden Temperaturen. Malcontenta etwa bei km 18 ist nach zwei tristen Kilometern mal wieder etwas abwechslungsreicher, aber nur sehr kurz. Die Brenta begleitet uns nun nicht mehr, sie ist einem stinkenden Rinnsal gewichen mit Kläranlage. Später laufen wir in einem Industriegebiet an unzähligen aufgestapelten Containern vorbei.

Endlich ist die Verpflegungsstation bei km 20 erreicht. Die Verpflegung ist gut, aber leider auf der ganzen Strecke nur alle 5 km. Dazwischen gibt es zwar Wasserwannen und Schwämme, aber ein paar mehr Trinkstationen hätten mir sicher gut getan. Kurz vor der Halbmarathonmarke geht es vorbei am Hotel Alle Torri. Halbmarathon bei brutto 2:13 (netto 2:10). Es ist noch ein weiter Weg bis nach Venedig. Auf den nächsten Kilometern sind es die Musikgruppen und nicht die Landschaft, die die Stimmung bei Laune halten. Der Blick fällt auf Werbeplakate. Aha, Obi haben sie hier also auch.

Marghera. Endlos lange gerade Straßen, aber wenigstens gesäumt von Bäumen, die etwas Schatten spenden. Endlich geht es mal um eine Ecke und dann um die nächste. Km 24 ist erreicht. Die großen Banner für die Kilometerschilder sind wenigstens immer gut schon von weitem zu erkennen und enthalten auch Meilenangaben für die vielen amerikanischen und englischen Teilnehmer. Es geht durch eine Unterführung. Wir kommen wieder hinaus und laufen eine kerzengerade Straße, wie mit dem Lineal gezogen. Km 25 ist in der Mitte dieses schmaleren Weges. Bei km 26 schallt mir "Jump" entgegen, jener Song, mit dem einst die Gruppe Europe in den Charts war. Es klingt so gut, dass ich es zunächst für eine abgespielte CD halte. Aber es wird live gespielt und ich nehme mir gut anderthalb Minuten Zeit und verweile hier kurz. Das Erlebnis jetzt ist mir wichtiger, als ein paar Minuten und Plätze in der Ergebnisliste. Die Gruppe mit den Luftballonen 4:30 läuft jetzt an mir vorbei. Ich lasse sie ziehen.

Nach km 28 geht es zum ersten Mal einen nennenswerten Anstieg hinauf über eine Brücke. Sie führt uns in den Giuliano Park, wo wir bereits unsere Startunterlagen abgeholt haben. Eingangs des Parks sind 29 km geschafft und es geht gleich wieder leicht bergan. Meine Schritte werden deutlich kürzer. Jetzt heißt es durchbeissen, schliesslich wartet ja Venedig, aber wie weit ist es noch bis dahin? Es ist ein riesiges Parkgelände. Links unten am Horizont geht der Blick auf's Meer hinaus, dann geht es erholsam ein paar Meter bergab. Km 30 ist geschafft und wieder tolle Musik, live gesungen. Doch noch eine Weile laufen wir im Zickzack durch diesen Park.

Bei km 32 verlassen wir den Giuliano Park und es geht hinauf. Ist das der Anstieg zum Damm vom Festland auf die Insel Venedig? Noch nicht ganz, denn es geht noch einmal bergab. 4 Kilometer sind es noch bis Venedig und diese führen uns über den kerzengeraden Damm. Meine Kräfte sind am Ende und dieser Abschnitt ist reine Willenssache. Am Ende der schier endlosen Geraden dann km 37. Den Anstieg in der leichten Rechtskurve gehe ich. Das ist meine Belohnung dafür, die ganze Gerade durchgelaufen zu sein, mit kurzem Stop an der Verpflegung bei km 35 etwa in der Mitte.

Ein Blick zurück auf diesen langen Damm, dann geht es rechts hinunter. Rechter Hand liegen die großen Kreuzfahrtschiffe vor Anker. Km 38 sind erreicht und noch keine Spur von den Gassen und Kanälen Venedigs. Auch bei km 39 noch nicht.  
Dann endlich die letzte Verpflegungsstation und dann geht der interessanteste Teil der Strecke los. "Über sieben Brücken musst du geh'n" klingt mir der alte Song der Rockgruppe Karat in den Ohren. Hier sind es doppelt so viele und ich will sie nicht gehen, sondern laufen. Ja, dieser Streckenteil weckt neue Kräfte und ist am Wasser entlang äußerst reizvoll. Da vergißt man schnell, dass man ja 39 Kilometer eines bis dahin nicht unbedingt spektakulären Marathons schon in den Beinen hat. Jetzt genieße ich den Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes.    

Von den Straßencafes aus werden oft und gern die Läufer beobachtet. Manchmal würde man gerne tauschen, aber nicht jetzt auf diesen Kilometern. Wir schwenken nach links und wieder nach rechts. Etwa 150 Meter geht es nun durch eine Baustelle und dann laufen wir über die eigens für den Marathon aufgebaute Schwimmbrücke. Vor uns der Campanile, eines der Wahrzeichen im Stadtbild von San Marco.

Nach der Schwimmbrücke erreichen wir bei km 41 wieder festen Boden unter den Füßen und es geht vorbei an Souvenierständen.
Der Markusplatz ist erreicht, von dem schon Napoleon behauptet hat, dass es der schönste Platz Europas sei. Auf der Piazza San Marco fügen sich so viele Elemente zusammen: Vielfalt, Ausdehnung und Geschichte, wie sie kaum ein anderer Platz zu bieten hat.  Bis zum Ziel ist es nun nicht mehr weit, aber es sind dennoch noch mehrere Brücken zu überqueren, alle mit Brettern läuferfreundlich überbaut.

Dieser letzte Kilometer zieht sich hin, aber ich genieße ihn, er dürfte auch noch länger sein. Km 42. Noch eine Brücke, dann ist das Ziel erreicht. Die Medaillen sind außergewöhnlich. Sie haben die Form des Gondeleisens. Am Bug der Gondeln stehen die sechs vorderen Rammsporen für die sechs Stadtteile, der hintere stellt die Insel von Giudecca dar. Der obere Teil steht für die Form des Corno, den typischen Hut der venetianischen Dogen. Allerdings hätte diese besondere Medaille ruhig etwas größer und dicker ausfallen dürfen. Sie wirkt wie eine kleine Blechplakette.
Eine Pastaparty gibt es übrigens auch. Der Gutschein liegt der Tüte bei, die als Zielverpflegung ausgegeben wird. Appetit habe ich aber direkt nach dem Zieleinlauf nicht so richtig und die lange Schlange ist auch ein Grund, darauf zu verzichten. Da gehe ich lieber gleich auf ein Boot, das mich zurück in Hotelnähe bringt. Die Boote sind für uns Marathonteilnehmer für diesen außergewöhnlichen Rücktransport kostenfrei.  

Viele Grüße
 Michael Weber