oder "Das glaubt uns eh keiner"
Als das ungarische Läuferpaar Edit und Janos im August anfragten, ob wir im Oktober an ihrem Self-made-Marathon in der kirgisischen Hauptstadt Bishkek teilnehmen wollten, mussten wir die Anreise etwas genauer planen. Schließlich hatten wir uns mit unserer großen Tochter bereits im April zum Köhlbrandbrückenlauf angemeldet. Da der Marathon in unserem dritten –STAN am Samstag stattfinden sollte, damit die Amerikaner Yen und Peter am Montag wieder zur Arbeit konnten, wollten wir uns direkt aus dem Hamburger Hafen zum Flughafen bringen lassen, um abends nach Moskau zu fliegen, dort am Flughafen übernachten und dann Freitag morgen weiter nach Bishkek. Am Moskauer Flughafen zu übernachten erschien mir nicht ganz so unproblematisch wie in anderen Ländern, so dass ich lieber ein Hotel im Transitbereich buchte, um nicht auf Sesseln oder dem Boden abzuhängen. Also ließ ich mir vom Hotelbuchungsportal bestätigen, dass sich das Hotel definitiv im Transitbereich befindet und ohne russisches Visum erreichbar ist. Nach einem gemütlichen Brückenlauf bei herrlichem Oktoberwetter flogen wir nach Moskau. Dort angekommen entpuppte sich die Lagebestätigung des Hotels als Ente, denn es lag außerhalb der Transitzone. Wir konnten spontan auf eins innerhalb der Zone ausweichen, so dass wir nicht übernächtigt nach Bishkek fliegen mussten. Am dortigen Flughafen holte uns Ivan, der vom Hotel gesendete Fahrer ab und an der Zubringerstraße aus der Stadt waren diverse Obst- und Gemüseverkäufer und einige kleine Lebensmittelläden (reminder 1). Direkt nach unserer Ankunft im Hotel trafen wir schon die Ungarn, die bereits die Läuferverpflegung eingekauft und die Strecke erkundet hatten. Nachdem wir Bargeld fürs Hotel, ein paar Getränke und Bananen (reminder 2) besorgt hatten, fuhren wir zum Briefing ins Hotel der Amerikaner. Traurig berichteten Edit und Janos, dass der mit Google Maps ausgewählte Park mit zwei Seen leider nicht mehr so hübsch aussähe und vor allem die Seen quasi ausgetrocknet wären. Wir bekamen unsere Veranstaltungs-T-Shirts, Schokoriegel und Banane und erkundeten danach noch etwas die Stadt, wobei wir einen Imbiss fanden, bei dessen Besitzer wir mithilfe einer englisch-sprechenden Familie vegetarische rolls bestellen konnten. Sehr lecker. Nach dem Frühstück ging es per Taxi (wegen der 20 Liter Getränke) zum Verpflegungspunkt im Park. Die Organisatoren hatten mit Forstarbeitern verabredet, an deren Hütte einen Verpflegungstisch einzurichten. Bei einer 3,3-km-Runde und Temperaturvorhersage von 13 bis 19° C sollte eine Verpflegungsstelle ausreichen. Nach dem obligatorischen Startfoto für die Country Club-Homepage lief unsere Gruppe die erste Runde gemeinsam, um die Strecke kennenzulernen. Wir liefen im nahezu autofreien Park und nach der Verpflegungstelle bogen wir in ein ehemaliges Naturbad ab. Wie angekündigt waren die beiden Seen ausgetrocknet. Nachdem diese jeweils halb umrundet waren, ging es an einem kanalisierten Fluss weiter bis zu einer Brücke. Diese Brücke erinnerte mich an eine Reportage über die zehn gefährlichsten Schulwege der Welt. Sie war, wie gesagt, 12-mal zu überqueren. Ich bin jedes mal gegangen – erschien mir SICHERER!
Auf dem gegenüberliegenden Flussufer ging es bis zur nächsten Brücke aus Beton, dafür mit 15 (teilweise ausgeschlagenen) Stufen auf jeder Seite, wieder zurück zum Startpunkt. Diese Runde also 12-mal laufen. Einige andere Läufer waren auch unterwegs, später kamen Familien mit kleinen Kindern, größere Kinder die spielten und irgendwann füllte sich auch der am Schwimmbadeingang gelegene Kletterpark. Die Runden wurden abgespult, fast alle überrundet und mit meinem Zieleinlauf überreichte mir Janos meine Medaille, da ich ihn gerade das zweite Mal überrundete. Nach der Gymnastik, der Medaillenübergabe für die zweitplatzierte Edit und einem Telefonat mit dem Parkmanager (wollte wissen, wir uns „sein“ Park denn so gefiele), den einer der Waldarbeiter angerufen hatte, trudelten auch die weitere Marathonis ein. Als alle umgezogen und die Siegerpokale verteilt waren, gingen wir zusammen aus dem Park, verabschiedeten die 3 aus dem anderen Hotel und wir 4 wanderten zurück zum Hotel. Zu Fuß, da ja ein Großteil der Getränke verbraucht waren. Vorher hatte ich Janos meine restlichen Squeezys geschenkt, da er sich die zu Hause auch mal besorgen wollte (reminder 3). Im Hotel angekommen, duschten und relaxten wir, schauten im internet-TV den HSV-Sieg an und wollten dann nochmal in die Stadt, um Souvenirs zu kaufen und etwas essen. Eigentlich hätte es ab jetzt ganz locker ausklingen können, ja hätte Doris nicht einige Bilder aus Bishkek in ihren whatsapp-Status hochgeladen. Wir gingen also in die Stadt, aber diesmal an dem Boulevard in die andere Richtung, so dass wir diesmal keine rolls, sondern jeder eine riesige Folienkartoffel (reminder 4) gegessen haben. Wir kamen kurz vor Mitternacht zurück ins Hotel, als Doris (sie war nur über das Hotel-WLAN im Netz) von einem ehemaligen Kollegen die Frage gestellt bekam, ob wir tatsächlich in Bishkek wären. Da wäre sein Kollege nämlich auch gerade zur Hochzeit seines Neffen. Der Kollege hätte ihm, nachdem er von der Anwesenheit von uns Marathonsammlern berichtet hatte, gesagt, dass morgen (also Sonntag) ein Marathon stattfinden würde. Doris antwortete dem Ex-Kollegen, dass unser Lauf schon heute (Samstag) war. Der wieder zurückversichert: Sonntag. Ich wurde interessiert, googlte mit „begrenzten“ Kenntnissen des russischen Alphabets und fand tatsächlich einen Termin für Sonntag. Ich schaltete sofort Planet-Marathon-Franz (in Nürnberg) ein, der perfekt russisch kann und der bestätigte ebenfalls einen Termin am Sonntag. Doris telefonierte derzeit in einer Whatsapp-Konferenz mit Stefan (in Erlangen) und Waldemar (in Bishkek). So gelang es uns, weitere Details (Startzeit, Preisgelder, Zeitlimit, Startbereich vom Vorjahr) über den lokalen Lauf herauszufinden. Gegen 1:30 h morgens entschieden wir, uns die Sache mal anzusehen. Gut gegessen (reminder 4) hatten wir ja, fürs Frühstück (reminder 2) war mit Bananen gesorgt, da das Hotel erst ab 7:30 Uhr mit dem Frühstück begann, und wir wollten die Rezeptionistin nicht nochmal so früh hochscheuchen. Um 2:15 Uhr klopfte ich bei den Ungarn, um meine verschenkten Squeezys (reminder 3) zurückzuholen. Sie erklärten uns für verrückt, rückten sie aber trotzdem raus und wünschten uns viel Erfolg. Morgens um 6 klingelte der Wecker. Wir zogen minimale Laufklamotten an, weil wir nichts von Kleiderabgabe gelesen hatte, überraschten die schlafende Rezeptionistin, verließen das Hotel und gingen zum vermeintlichen Startort (von 2018). Da war aber nichts los, also weiter die Straße runter bis zum Supermarkt, wo wir Getränke gekauft hatten. Dort fragten wir einen Taxifahrer nach dem Acsa-Tasch-Platz. Er kannte ihn nicht, schickte uns stattdessen zum Unabhängigkeitsplatz. Auf dem Weg dorthin trafen wir nur Leute, die kein englisch sprachen. Also in ein Hotel und an der Rezeption nachgefragt. Der Platz war leider nicht auf der Innenstadtkarte, so dass wir nur eine Pfeilmarkierung bekamen, in welche Richtung wir das „Ende der Karte“ verlassen sollten. Wir wollten gerade mit dem Taxifahrer vor dem Hotel verhandeln, als drei Hotelgäste (Australier, Neuseeländer, Italiener) rauskamen. Sie hatten drinnen zugehört und wollten sich zu einer Wanderung zu einem trail fahren lassen. Unsere Anfrage hatte den Neuseeländer neugierig gemacht und er verhandelte auf Russisch mit dem Taxifahrer. Das wollten er jetzt genau wissen und bot uns an, dass sie uns zum vermeintlichen Startort (gelegen am Flughafenzubringer) mitnehmen könnten. Wir fuhren ca. 10 Minuten und mit jeder Ecke, an der wir keine Laufveranstaltungstypischen Merkmale (Absperrgitter, Zielbogen, erhöhte Läufermengen, etc) sahen, wuchs die Enttäuschung. Doch auf einmal Blaulicht, ein Start-/Zielbogen, ein Läuferdorf. Da war es also. Das Taxi musste noch 2 km weiterfahren, bevor an der vierspurigen Straße endlich ein U-Turn kam, um zu wenden. Die 3 freundlichen Herren wünschten uns viel Erfolg, wir stiegen aus und suchten jemand von der Orga, denn noch waren wir ja nicht im Rennen. Am Verkaufstisch für den Laufgurt und das Veranstaltungs-T-Shirt fanden sich gleich 2 junge Damen, die sehr gut englisch sprachen und uns helfen wollten. Aizhan rief ihren Boss, Urmat, an. Der kam sofort, hörte sich unsere Geschichte an und erteilte uns sofort zwei Startberechtigungen. Nach dem Bananen-Frühstück und der Abgabe unseres provisorischen Kleiderrucksacks stellten wir uns hinten in den Startblock mit ca. 60 Marathonis. Hinter uns scharrten bereits die Halbmarathonis, die 5 min später starten sollten, mit den Hufen. Urmat stellte uns noch einem Läufer vor und dann ging es los. Alle liefen wie verrückt los und schon bald überholten uns auch (nicht nur die schnellen) 21,1-km-Läufer. Wegen des Marathons am Vortag hatte ich nur das Ziel „gemeinsam ankommen“ ausgegeben, bis zum Halbmarathon (es war eine 10,5km Wendepunktstrecke) möglichst nicht zu gehen, so dass wir in 2:30 h mit der Halbdistanz fertig wären, um dann noch 3:30 h für die zweite Hälfte zur Verfügung zu haben. Bis zum Halbmarathon in 2:26 h hatten wir bereits 4 Läufer überholt und konnten am Wendepunkt die nächsten potentiellen „Ziele“ ausmachen. Jetzt kamen unsere entscheidenden Vorteile zum Tragen: 1. die Erkenntnis aus zusammen knapp 1.100 Marathonläufen, dass in der Ruhe die Kraft liegt, 2. Sonnenbrillen, so dass wir beim Sonnenschein nicht blinzeln mussten, 3. Doris´ Jagdfieber und 4. Kleingeld in meiner Tasche, um in den Läden (reminder 1) Cola zu kaufen, da auf die Dauer Wasser, Bananen und Orangen nicht reichen würden. Bis zur 31,5km-Wende hatten wir 5-6 weitere überholt und sahen schon die nächsten. Nach einem strategischen Boxenstopp gings weiter und wir holten uns noch 2. Mit dem dritten liefen wir ab km 35 gemeinsam weiter. Es war sein Marathondebut und er war schon ziemlich platt. Da er ebenfalls gut englisch sprach, textete ich ihn also mit ein paar Marathonanekdoten zu, bot ihm von unserer Cola an („Cola. Why?“, „It´s pure energy, my friend!“). Schließlich meinte er, jedem an der Strecke erzählen zu müssen, dass wir die Deutschen sind. Wir finishten nach 5:08 h gemeinsam und er stellte fest, dass er allein wohl noch nicht im Ziel wäre. Könnte stimmen „Jeden Tag eine gute Tat.“ Wir bekamen sogar Medaillen, bedankten uns noch einmal ganz herzlich bei Aizhan und Urmat.
Nun kam der Teil, der eigentlich schon am Vortag begonnen hatte. Ab ins Hotel, duschen, ausruhen, essen, Souvenirs kaufen, packen, kurz schlafen, mit Ivan zurück zum Flughafen und früh morgens via Moskau zurück nach Hamburg fliegen.
Das war die „unglaubliche“ Geschichte vom 83. Länderpunkt aus Kirgistan.
Doris und Mario